Saturday 28 June 2008

Brot und Spiele oder Was war nochmal das Gute am Patriotismus?

"Proben nationaler Mobilisierung finden heute hauptsächlich via Sport statt, ja sind dessen erste Aufgabe. Im Event fühlt man sich mit etwas Höherem verbunden. Diese Fixierung korrespondiert mit einem unmittelbaren Desinteresse die eigene Lebenslage betreffend. Die Idee, dass es einem besser geht, wenn die eigene Mannschaft siegt, ist eine Täuschung, aber sie wirkt. Es sind Momente der Begeisterung, die Anhänger können sich gehen lassen, ja hingeben. Nation macht geil."
Freitag 26/2008

Es ist Fußball-EM und ich bin angewidert. Von der grauenhaften Flaggenschwenkerei und dem damit einhergehenden Chauvinismus. Vom medialen Hype, der völlig nichtssagenden Pressekonferenzen mit Balltretern oberste Priorität einräumt, der fragwürdige patriotische Gefühle hochschaukelt und aus Fußballspielen staatstragende Ereignisse macht, als ginge es tatsächlich um Leben und Tod. ("Als Spieler kann ich den Sieg nicht versprechen, sondern nur, daß ich mich reinhauen werde und mein Leben geben werde." Jens Lehmann)

Man sollte nicht vergessen, am Beginn des Ganzen stand vor der Weltmeisterschaft im Jahr 2006, dem Jahr in dem die Autofähnchen Einzug hielten, die vom demokratiefeindlichen Bertelsmann-Konzern koordinierte und mit prominenten Gesichtern besetzte gigantische Kampagne "Du bist Deutschland", die mit diffusem esoterischen Geschwurbel zu nationaler Identifikation und Opferbereitschaft aufforderte, während gleichzeitig der Abbau des Sozialstaates und der Ausbau des Überwachungsstaates massiv vorangetrieben wurde und wird. Sie erdreisten sich, gute Miene zum bösen Spiel zu fordern und bekommen auch noch, was sie wollen.

Meine persönliche Beobachtung legt nahe, daß dieser in obersten Konzernetagen ausgeheckte und von Werbeagenturen konzeptionierte, bereitwillig angenommene und forciert nach außen getragene Nationalstolz hauptsächlich von jungen Mittelschichtsfamilien mit vorwiegend männlichem Nachwuchs betrieben wird. Die meisten Fähnchen sehe ich an relativ neuwertigen großen Familienautos flattern, mit Namensaufklebern der eigenen Brut an der Heckscheibe, mit so urdeutschen Namen wie Luca, Leon-Pascal oder Finn. Die nächstgrößere Gruppe bilden tiefergelegte Tankstellenprollos mit geblähtem Ego und von abstoßender Ästhetik. Ebenso heftig grassiert dieser Wahn unter Studierenden, die sonst gemeinhin glauben schlauer zu sein als Vorgenannte. Wie mir zugetragen wurde, existiert im (ohnehin abzulehnenden) Studivz eine Gruppe mit dem Motto "EM 2008 - Deutschland zeigt Flagge! Sei dabei - Jetzt die D-Flagge als Profilbild wählen!", die zum Zeitpunkt des Halbfinales nicht weniger als 333.722 Mitglieder zählte. Hunderttausende Studierende also, die statt lustiger oder wie auch immer gearteter Fotos und Bildchen, sich in ihrer Profilbeschreibung von der Nationalflagge repräsentieren lassen, die ihre Individualität bereitwillig aufgeben, um zu einer uniformen nationalen Masse zu verschmelzen. Das ist gedankenloses Mitläufertum, gerade so wie es erwünscht ist. Noch ist es Partypatriotismus. Doch daß eine Flagge eine Person repräsentiert, kennt man ansonsten von den flaggenbedeckten Särgen toter Soldaten und inmitten des Trubels wurde ja beschlossen, 1000 weitere deutsche Soldaten nach Afghanistan zu entsenden.
Eric Hobsbawm schrieb in "Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780":
"Was den Sport als Medium der Vermittlung einer nationalen Gesinnung zumindest bei Männern so unerhört wirksam machte, ist die Mühelosigkeit, mit der sich selbst die politisch oder öffentlich uninteressiertesten Individuen mit der Nation identifizieren können, sobald diese durch erfolgreiche Sportler symbolisiert wird, in deren Disziplin fast jeder irgendwann einmal in seinem Leben gern Besonderes geleistet hätte. Die vorgestellte Gemeinschaft von Millionen scheint sich zu verwirklichen als eine Mannschaft aus elf Spielern, die alle einen Namen tragen. Der einzelne, und wenn er nur die Spieler anfeuert, wird selbst zu einem Symbol seiner Nation. Der Autor erinnert sich noch gut daran, wie er 1929 im Haus von Freunden aufgeregt am Radio die Übertragung des ersten Länderspiels zwischen England und Österreich verfolgte, das in Wien ausgetragen wurde. Seine Freunde versprachen ihm einen Abreibung, falls England gewinnen solle, was nach Lage der Dinge sehr wahrscheinlich war. Als einziger anwesender Engländer war ich England, und sie waren Österreich. (Zum Glück ging das Spiel unentschieden aus.) Auf diese Weise dehnten zwölfjährige Jungen die Idee der Fan-Gemeinde einer Mannschaft auf die gesamte Nation aus."
Ich frage mich, wovon genau all die hupenden, gröhlenden, flaggenden Leute sich eigentlich nationaltechnisch repräsentiert sehen. Was genau macht sie stolz? Wer kann es mir benennen? Selbst wenn ich es mal auf's gröbste herunterbreche und lediglich eine Identifikation mit der Mannschaft unterstelle, frage ich mich doch, warum sollte denn nun ICH mich von denen repräsentiert sehen, wie es der Jubelgruppenzwang erfordert? Ich kann mich mit diesen ewig schief grinsenden hohlköpfigen Millionären so wenig identifizieren wie die sich mit mir (Besonders gefressen hab ich in diesem Zusammenhang ja die Beschreibung, sie seien so unbeschwert und das mache sie so sympathisch.) und wenn ich den Trainer reden höre, muß ich feststellen, wir sprechen ja noch nicht mal dieselbe Sprache. Auch inhaltlich. Leute, die ein Wort wie "Bringschuld" in ihrem Wortschatz haben, sind geistig mit mir nicht verwandt und Leute die sich vom Vorwurf einer solchen auch noch zum Toreschießen motivieren lassen, haben ein Wertesystem verinnerlicht, das mich entsetzt.

Man stelle sich vor, 333.722 junge Menschen würden für ihre Rechte eintreten und gegen Studiengebühren protestieren, die nicht zufällig auf Druck von Bertelsmann durchgesetzt wurden. Welcher patriotismusbesoffene Fanmeilengröhler hätte sich, statt wie ferngesteuert zu agieren und andere stellvertretend für sich siegen sehen zu wollen, zu einer politischen Demonstration gegen die fortlaufende Untergrabung seiner Bürgerrechte eingefunden und wie wären die Medien damit umgegangen?

Ich fühle mich ganz und gar nicht unbeschwert. Wie soll man im Bewußtsein dieser Dinge den Fußball genießen? Ich bin nicht Papst, nicht Kanzlerin und ich bin auch nicht Deutschland. Ich habe keinen Grund zum Feiern. Ich finde das alles ist von monströser Häßlichkeit und ich glaube, den einzigen, denen diese von allem Wichtigen ablenkende Fähncheneuphorie tatsächlich nützt, sind die obersten Flaggenrepräsentanten Köhler, Merkel und die sie umgebenden menschenverachtenden Technokraten wie die INSM, Bertelsmann und die Bild-Zeitung, denen man allesamt mal die Verfassung um die Ohren schlagen sollte, und zwar hart und mitleidlos.


via: als-ob-leben ?

Vielen Dank an J. für ihre Hinweise!

2 comments:

Anonymous said...

Bitte veröffentlichen!!

Lass diesen Blog in einer Zeitung abdrucken, denn du hast perfekt auf den Punkt gebracht, was offenbar kaum jemand sonst mehr zu durchschauen vermag oder einfach nicht begreifen will. Und wisse, dass du trotz des traurigen Anscheins nicht ganz allein da draußen mit deiner Meinung bist. Ich unterschreibe das hiermit sofort und bin geradezu dankbar dafür, dass auch andere so empfinden wie man selbst. Am treffendsten finde ich die Erinnerung daran, wo man sonst häufig Fahnen zum Einsatz bringt, nämlich wenn ein "Held der Nation" zu Grabe getragen wird. Die Bedeutung eines Symbols sollte man nicht unterschätzen und schon gar nicht in Vergessenheit geraten lassen. Wieso kauft sich keiner Fußballtrikots und Wimpel zur Repräsentation des Teams für das er/sie ist? Das wäre ja noch nachvollziehbar, auch wenn eine Mannschaft längst nichts Homogenes mehr an sich hat.
Hab vielen Dank für diesen Beitrag, der mir am heutigen Sonntagabend kurz vor dem Anpfiff zum auch von mir ersehnten Endspiel – denn vielleicht ebbt der Wahnsinn danach wieder etwas ab, obwohl ich fürchte, die Fähnchen werden nicht ganz verschwinden, denn sie stehen ja eben nicht ausschließlich für die deutsche Fußballmannschaft – eine freudige Zustimmung entlocken konnte. Ich habe ich es sehr genossen eine so auf das Treffendste herunter gebrochene Kritik zum Verblödungsgrad DER Deutschen gelesen zu haben, mit denen auch ich mich nicht identifizieren kann und selbiges auch nicht tun möchte, 'trotz' benannter Kampagnen wie „Du bist Deutschland“! Aber schön, wenn es auf der Welt sonst keine Probleme mehr gibt, was zumindest das Zusammenschrumpfen der Berichterstattung in den Medien auf EM Beiträge suggeriert und ALLE Deutschen heute nur die Daumen drücken, dass Ballack einsatzbereit Gewehr bei Fuß stehen wird.
Jule

Splinter said...

Vielen Dank für deine Komplimente! Was freue ich mich über deinen Kommentar!
(Als gestern einige es nicht lassen konnten, in der Halbzeitpause aus dem Haus zu rennen, sich ins Auto zu setzen und "Deutschland! Deutschland!" schreiend zu hupen, was das Zeug hält, war das für mich wieder ein Exempel dafür, wie all die in völlig sinnlose Handlungen umgeleitete Energie im Nichts verpufft.)